Wir gewahren ihn schon im Hineingehen: den einzigen großen künstlerischen Schmuck in dieser sonst so schlichten Kirche: große bunte Glasfenster. Mit ihnen bracuth es kein weiteres Altarbild. Wenn die Sonne untergeht, strahlen die Farben. Die Fenster sind nicht traditionell gestaltet, so dass man schnell hinblicken, nicken und begreifen könnte. Übermodern sind sie auch nicht, so dass man mit den Schultern zucken müsste. Jeder findet Vertrautes und entdeckt auch wieder Neues — Meditationsbilder, die es aushalten, dass man sie lange betrachtet in stillen Minuten. Jahrelang oder ein ganzes Leben hindurch lassen sie sich mit den Augen und mit dem Herzen durchwandern.
Gelb und golden in der Mitte: der Herr, derauferstandene Christus mit siegend erhobenem Arm, die Schlage zu seinen Füße, Sünde, Tod, Teufel. So soll die Weltgeschichte hinausgehen!
Jetzt erkennen wir im linken Fenster das große braune Kreuz. Dem verweilenden Auge erschließen sich stählerne Nägel und spitze Waffen—Lanze, Morgenstern, die Eisenkugel mit Nägeln zum vernichtenden Zuschlagen. Ist dies eine Binse, ein Rohr, ein Spottszepter für den gefangenen Jesus? Schwer und groß tropft Blut aus dem Kreuz. Scheu vermeidet der Glasbildner eine Darstellung des leidenden Herrn. Sozusagen in Kurzschrift wird die Passion nacherzählt. Und dieses Blut versickert nicht irgendwo: das suchende Auge erkennt einen weiten Kelch, der dieses Blut aufnimmt. Geheimnis des Altarsakraments: ich empfange im Heiligen Mahl, was der Herr am Kreuz für mich erworben hat.
Karfreitag, Ostern: Wir suchen rechts auf dem dritten Fenster das dritte Hauptfest (Pfingsten) uns sehen schon die roten Flammen vom Himmel stürzen. Zwölf müssen es sein—oder sind‘s nur elf?
Aber diese Fenster bergen und entbergen noch mehr Linien, Flächen, Farben, Schatten, Gestalten, als die ersten suchenden Blicke finden können. Was ist das für ein seltsam unvollkommener gelber Kreis mit dem dunklen Innenkreis? Ein Auge inmitten der pfingstlichen Flammen? Irrend wandert der Blick zurück nach links auf das Kreuzesfenster: was soll die ausschwingende blaue Fläche? Sie sieht aus wie der Schwanz eines Fisches. War das auf dem Pfingstfenster nicht ein Fischauge? Und nun suchen die Augen das Mittelstück, den massigen Leib des Fisches. Die einen sehen ihn schnell, den großen Fisch, der sich durch die drei Fenster zeiht; andrer Augen sind gehalten, vermögen nicht über die Mauern zwischen den Fenstern hinüberzublicken. Getrenntes zusammenbringen – eine hohe Kunst beim Sehenlernen eines Kunstwerks, eine noch höhere im Leben. Eine zersplitternde Ehe zusammenbringen, eine zerfallende Gesellschaft, eine zersplitterte Kirche, die Scherben des Glaubens, eine zersprungene Liebe … Die meisten brauche Zeit, um den Drei-Fenster-Fisch zu erkennen. Dem schon Sehenden kann er nach einem Lidschlag wieder entschwinden. Manche haben das große Bild seit Jahrzehnten vor Augen – und haben noch nichts gesehen.
Der Fisch: im Griechischen, der Sprache des Neuen Testamentes, sit die Buchstabensymbolik vollkommen. Die Buchstaben des griechischen Wortes für den Fisch (Ichthys) ergeben die Anfangsbuchstaben eines ganzen Bekenntnisses: Jesus Christus, Sohn Gottes und Retter. So wurde der Fisch zum geheimen Erkennungszeichen der Christen. Aus irgendeinem Grund wählten sie dafür nicht das Kreuz – war es ihnen zu deutlich, war der Kreuzesgalgen ihnen zu grausem?
Der große Fisch schwimmt in Karfreitag, Ostern, Pfingsten. Die Kirche lebt vom Kreuzesopfer Christi, von seiner Auferstehung aus den Toten, vom Heiligen Geist, der die Flammen des Glaubens und der Liebe entzündet. So löst Gott der Herr selber die schweren Menschheitsfragen. Die Frage nach der Schuld, die immer wieder neu aufbricht unter uns. Und was ist der Tod – das schwarze Geheimnis; die einzige Gerechtigkeit, die es gibt; das unvermeidlich Scheußliche? Für die Schuld haben wir eine Lösung:
wir schieben sie weiter auf den anderen.
Für den Tod haben wir keine.
Gottes Lösungen: Schuld wird nicht verschoben, verdrängt, verleugnet – Schuld wird vergeben. Größtes aller Wunder: Geschehenes wird ungeschehen gemacht. Und die Auferstehung ist Gottes Lösung der Frage nach dem Tod. Und der Heilige Geist ist Gottes Antwort auf die Frage nach dem Lieben– und Glaubenkönnen, nach dem neuen Leben.
Aber wo ist dieses Leben in den Fenstern? Wir müssen in den Chorraum hinaufgehen und sehen das vierte Fenster: den Mann, die Frau, Adam und Eva. Da springen uns entgegen Finsternis und Licht, Wasser und Erde, Gras und Kraut, Vögel und Tiere der sieben Schöpfungstage – und die leuchtend rote Frucht, mit der unsere schwere Geschichte beginnt …
Rudolf Sefranek
Pfarrer der Martin-Luther-Gemeinde 1969—1990
Habt keine Angst, ich bin es
„Jesus forderte die Jünger auf, ins Boot zu steigen und an das andere Ufer vorauszufahren. Er schickte die Leute nach Haus und stieg auf einen Berg, um in Einsamkeit zu beten. Das Boot der Jünger war schon weit vom Land entfernt und wurde von hohen Wollen hin und her geworfen. In der vierten nachtwache kam Jesus auf dem See zu ihnen. Als sie ihn kommen sahen, erschraken sie, weil sie meinten, es sei ein Gespenst. Sie schrien vor Angst. Jesus begann mit ihnen zu reden und sagte: ‚Seid getrost, ich bin es; habt keine Angst!‘ Petrus erwiderte: Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme! Jesus sagte: Komm! Petrus stieg aus dem Boot und ging über das Wasser auf Jesus zu. Er sah den Wind, bekam Angst und begann, unterzugehen. Er schrie: Herr, rette mich! Jesus streckte die Hand aus, ergriff ihn und sagte: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und der Wind legte sich. Wahrhaftig, Gottes Sohn!“
Für die Menschen der Bibel ist das Meer häufig ein Symbol der Macht des Todes oder chaotischer Kräfte, die in der Welt am Werk sind. Die Darstellung, wie Jesus über das Meer geht, bedeutet, dass er Sieger über den Tod und das Chaos ist. Schon wird er als der Auferstandene offenbar.
Ist es möglich, auf der Erde am Leben Christi teilzuhaben? Petrus hat diesen Wunsch, und Jesus geht darauf ein: ‚Komm!‘, sagt er einfach. Mit einem einzigen Wort bedeutet er ihm, dass der Weg offen ist, zugänglich für alle, die ihm nachfolgen wollen. Sich hier und jetzt auf das Leben der Auferstehung einzulassen, heißt, in ein Leben einzutreten, in dem man sich auf keine vorher gemachte Erfahrung stützen kann, heißt, ganz im Vertrauen auf Gott zu leben.
Wer behauptet, dass Jesus den Tod und die Mächte der Verwirrung besiegte, hat viele Tatsachen gegen sich. Wir sehen Kriege, Hass, blinde Gewalt, Menschenverachtung, das Böse in jeglicher Gestalt. Nur wer den Blick auf Christus gerichtet hält, kann eine andere, neue Wirklichkeit erfassen.
Petrus versinkt, sobald er seinen Blick weg von Christus auf den Wind und die Wellen richtet. Ihm wird angst. Von dem Augenblick, in dem Petrus versinkt und ruft: ‚Herr, rette mich!‘, überliefert das Evangelium eine wichtige Einzelheit. Der Apostel vollbringt keine heroische Tat—Christus ist es, der handelt: Jesus streckte die Hand aus und ergriff ihn! Unser Weg in der Nachfolge Christ beruht nicht auf eigener Kraft, sondern auf der Treue Christi. Christus fragt uns nicht: Bist du sicher, dass du genügend Kraft und Glauben hast? Er fragt: Glaubst du, dass ich an deiner Seite bin?
Hans Brettreich
Pfarrer der Martin-Luther-Gemeinde 1990 – 2005
Gerne verweisen wir auch auf den Beitrag im Projekt „Hörpfade“
Die Fenster der Martin-Luther-Kirche
https://www.klingende-landkarte.de/stein/die-fenster-der-martin-luther-kirche/
Diese Station ist im Rahmen des Projekts „Hörpfade“ entstanden. Die Hörpfade sind ein Projekt des Bayerischen Volkshochschulverbandes in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk und der Stiftung Zuhören.